Die Kunst des Lehrens und Lernens im digitalen Zeitalter.
Digitales Zeitalter und neue Kulturtechniken. Ein Aufsatz.
Mit diesem Aufsatz bin ich der Frage auf der Spur, ob das digitale Zeitalter neue Kulturtechniken hervorbringt oder im Grunde auf bereits vorhandene Kulturtechniken aufbaut bzw. diese lediglich erweitert. Dieser erste Aufsatz bezieht sich auf bereits in der Breite einbezogene Teile der Digitalisierung und geht im Einzelnen nicht näher auf zukünftige virtuelle Welten, KI-Entwicklungen und Verschmelzungen von Mensch und Maschine ein.
Meine Fragen im Einzelnen:
Überblick
Kulturtechniken: Definition und Begriffsbestimmung
Als Kulturtechniken werden durch Erziehung und Bildung vermittelte Fähigkeiten angesehen, die die Aneignung, Erhaltung und Verbreitung von Kultur ermöglichen. In der ursprünglichen Definition zählen dazu das Lesen, Schreiben und Rechnen. Verschiedene Publikationen fordern aufgrund der querschnittübergreifenden Wichtigkeit des Digitalen die Aufwertung der digitalen Kompetenzzweige zu einer eigenständigen, neuen, basalen Kompetenz. Andere Autoren sehen die digitalen Techniken und Prinzipien lediglich als eine Erweiterung der basalen Fähigkeiten durch neue technische Hilfsmittel und andere Schwerpunkte. Wikipedia definiert Kulturtechniken als „kulturelle und technische Konzepte zur Bewältigung von Problemen in unterschiedlichen Lebenssituationen. Dabei steht die kulturelle Leistung, das technische Können und die Technik in einem komplexen Zusammenhang“.
Wichtig ist die Definition von Kulturtechniken in Bezug auf den Begriff der „Grundbildung“ des Menschen. Die Grundbildung und Alphabetisierung sind die Voraussetzungen für die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (https://www.fachstelle-grundbildung.de/grundbildung-und-alphabetisierung.html, 1/2022).
Im Kontext der Digitalisierung wird vielfach auch von einer „digitalen Alphabetisierung“ gesprochen. Das „Council of Europe’s Competences for Democratic Culture“ definiert seit 2016 eine „Digital Citizenship“, also die „digitale Staatsbürgerschaft“ (https://www.coe.int/en/web/digital-citizenship-education). Mit der „Digital Citizenship Education“ soll Kindern und jungen Menschen durch Bildung oder Kompetenzerwerb die aktive Teilhabe an der digitalen Gesellschaft gewährleistet werden. Auf der Internetseite heißt es zu den notwendigen Kompetenzen weiter: „…Dies sind die Kenntnisse, Fähigkeiten und das Verständnis, die Benutzer benötigen, um ihre demokratischen Rechte und Pflichten online auszuüben und zu verteidigen und um Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Cyberspace zu fördern und zu schützen.“ Die digitale Bürgerschaft stellt eine neue Dimension der Bürgererziehung dar, die sich darauf konzentriert, Schülern beizubringen, in digitalen Umgebungen auf positive Weise zu arbeiten, zu leben und sich auszutauschen.
Neue und alte Kulturtechniken: Grundlagen und Kompetenzen
Welche Kompetenzen zu den grundlegenden Kulturtechniken zählen, wird weltweit unterschiedlich definiert (Grotlüschen & Linde, 2006). Hier eine Auswahl der Definitionen:
Wie digitale Kompetenzen im Kontext der Grundbildung definiert werden, macht auch dieses Zitat aus dem Grundsatzdokument für die AlphaDekade 2016-2020 der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK) deutlich: „Der Begriff der Grundbildung soll Kompetenzen in den Grunddimensionen kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe bezeichnen, darunter: Rechenfähigkeit (Numeracy), Grundfähigkeiten im IT-Bereich, Gesundheitsbildung, finanzielle Grundbildung, soziale Grundkompetenzen. Grundbildung orientiert sich somit an der Anwendungspraxis von Schriftsprachlichkeit im beruflichen und gesellschaftlichen Alltag, wobei die Vermittlung von Alltagskompetenzen immer auch in der Verbesserung sinnverstehenden Lesens und Schreibens mündet.“
Aus den folgenden, beispielhaften Stichpunkten, Vorträgen und Publikationen lassen sich unterschiedliche Fragestellungen und Forschungsgebiete zur Definition von Kulturtechniken und den sich daraus ergebenden notwendigen Kompetenzen sehr gut extrahieren:
Zusammengefasst gehören folgende Fähigkeiten im Digitalen zu den erweiterten Kulturkompetenzen:
Ausblick
Lernkultur im Wandel
In einer sich wandelnden Lernkultur stellen sich die Fragen:
Medien und innovative technische Angebote wurden lange Zeit hauptsächlich in der Freizeit, zur Kommunikation und zur Unterhaltung genutzt. Ganz langsam taucht jetzt auch im Bereich der schulischen und beruflichen Wissensvermittlung der effektivitätssteigende Faktor „Lernen im Kontext positiver Emotion“ auf. Ein entscheidender Faktor in der nicht-digitalen Wissensvermittlung ist die Beziehungsebene, die Lehrer und Mensch als Vorbild, eine gereifte Persönlichkeit, als emotionale, empathische, mentale und sinnliche Bindungs- und Bezugsebene.
Wie steht es mit der Ausbildung der emotionalen Intelligenz, kommunikativen Intelligenz und der sozialen Intelligenz im digitalen Kontext? Wie wichtig ist die Schulung der körperlich-sinnlichen Intelligenz in der Interaktion mit einer real erlebbaren, natürlichen Umwelt? Hier besteht noch viel Diskussionsbedarf. Durch Homeoffice, digitales Lernen und Homeschooling hat sich die Notwendigkeit aufgedrängt, in der Bildung neue Wege zu gehen. Momentan sind Lehrkräfte noch intensiv damit beschäftigt, sich technisches Wissen zu erarbeiten und geeignete Räume zur digitalen Wissensvermittlung zu gestalten.
Ein gutes Beispiel für den Wandel in den Kulturtechniken ist das Beispiel Lesen und Schreiben. Reichte es in der Vergangenheit aus, lesen und schreiben zu können, ist es jetzt notwendig, diese Fähigkeiten um das Handlungsfeld „kollaboratives Schreiben in sozialen Netzwerken“ zu erweitern. Aber ist dadurch bereits eine neue Kulturtechnik entstanden? Gleichzeitig drängen sich Fragen zur Teilhabe und Gleichberechtigung auf. Lassen sich Wege und Mechanismen denken und installieren, um den Input und die Feedbackschleifen der Kulturleistungen außerhalb des digitalen Systems wertschätzend und achtsam einzubeziehen? Wie lässt sich eine drohende Hybris eines geschlossenen, nur auf sich selbst bezogenen Systems vermeiden? Auf welche Iterationen, Bezugsgrößen und Werte außerhalb bzw. oberhalb des Systems kann sich die Menschheit in all ihrer Vielfalt einigen? Mit der Digitalisierung ist ein neues Zeitalter angebrochen. Es gibt keinen Schritt zurück. Aber ein Voran mit Bedacht ist möglich. Die Geschichte lehrt uns: Sobald neue Ideen oder Technologien das Alte ablösten, wurde jede Menge Porzellan zerschlagen. Aber muss das so sein? Wird es der Menschheit gelingen, unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinander bestehen zu lassen und zu fördern?
Kein „entweder – oder“, sondern ein „sowohl als auch“? Stellen sich auch auf den ersten Blick einige digitale Themenfelder als generisch dar, ist bei näherer Betrachtung zu erkennen, dass diese Themen auf die schon bekannten basalen Kompetenzen und damit auf bekannte Kulturtechniken zurückzuführen sind. Sie tauchen im digitalen Kontext jeweils nur explizit auf (z. B.: die Kulturtechnik Lesen und Schreiben wird im Digitalen um Kenntnisse zum Datenschutz erweitert). Lesen und Schreiben ist die grundlegende Kulturtechnik, aus der heraus sich ergänzende Kenntnisse und Fähigkeiten ergeben. Datenschutz ist deshalb keine neue Kulturtechnik. Wir haben es also mit den Fähigkeiten zu tun, die aus der Erweiterung unserer schon vorhandenen Kulturtechniken erwachsen oder sich im Digitalen hauptsächlich in einer neuen Gewichtung zeigen. Die notwendigen Kompetenzen verändern sich beispielsweise in der Art der „Werkzeuge“, die benutzt werden. Zudem erweitern und durchweben die digitalen Anforderungen alle Bereiche.
Zukunftsaussichten und Trends
Das Erlernen basaler Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben war in vordigitaler Zeit eng an den Erwerb handwerklicher Kompetenzen und Fähigkeiten gebunden. Heute rücken intrinsische Faktoren zur Bewältigung digitaler Aufgaben in den Vordergrund. Beispielsweise setzt die asynchrone Struktur des Internets bei der Internetrecherche besonders mentale Stärke und Konzentrationsfähigkeit voraus. Vielfältige Sprachcodes fordern die geistige Beweglichkeit und Empathie heraus. Hier setzen für mich auch die besonderen Herausforderungen für ein erfolgreiches Lernen in einer digitalen Welt an.
Es geht um einen Lernprozess in Beziehung, damit der Mensch mentale Stärke und Menschlichkeit entwickeln kann. Ein Lernen, das nicht nur die intellektuellen Fähigkeiten weiterentwickelt, sondern zuerst den ganzen Menschen, das komplette menschliche Potenzial entfaltet. Besonders die emotionale Intelligenz könnte auf dieser Suche nach dem optimal Menschlichen endlich die ihr zustehende Anerkennung, Wertschätzung und Fortentwicklung erhalten. Beim Fortschreiten der Nutzung digitaler Welten und der biologisch-digitalen Mensch-Maschine-Verschmelzung oder auch mit Blick auf die grundsätzliche Entwicklung neuer biologisch-digitaler „Lebensformen“ müsste die Frage nach neuen Kulturtechniken neu überdacht und bewertet werden. Schließlich würden so auch neue Lebenswelten und eventuell sogar neue Lebensformen geschaffen.
Mein persönliches Fazit
Die Herausforderungen der digitalen Welt bringen in vielen Bereichen keine neuen Kulturtechniken hervor, sondern verlagern zum einen die Gewichtung der Kompetenzbereiche hin zu erweiterten geistigen, mentalen und empathischen Kompetenzen. Zum anderen durchweben sie alle Bereiche. Die Verschiebung der erweiterten Kompetenzen im Umfeld der Digitalisierung macht auch erweiterte Ansätze in der Lehr- und Lerndidaktik sowie in der Lernmethodik notwendig. Hierzu zählen nicht nur der Einsatz neuer Techniken, Methoden und Lernräume, sondern auch die Erweiterung konkreter Lernziele und -räume.
Mit dem Begriff "Lernziel-Räume" bezeichne ich erweiterte geistige, mentale und empathische Kompetenzen und Faktoren, die zum Gebiet der Persönlichkeitsentwicklung zählen. Die intrinsische Motivation ist dabei der absolut entscheidende Faktor. Für mich ist es das Argument, den Menschen und seine persönliche, menschliche Entfaltung, auch im digitalen Kontext in den Mittelpunkt des Lernens und Lehrens zu stellen.
Die intrinsische Motivation als Schlüsselkompetenz für eine nachhaltige (Aus-)Bildung digitaler Kompetenzen halte ich für entscheidend. Der Einsatz und die Entwicklung von Methoden, die auf eine Herausbildung der intrinsischen Motivation zielen, halte ich für essenziell. Dabei ist zu beachten, dass die intrinsische Motivation nur gefördert, aber nicht erzwungen werden kann und auch nicht über externe Motivations- oder Belohnungssysteme steuerbar ist. Es braucht demnach eine starke, intakte Persönlichkeit, um Ziele erfolgreich umzusetzen. Letztlich werden auch Technologien nur so gut sein, wie es der Reife des Menschen im Besonderen und der Reife der Menschheit im Allgemeinen entspricht. Die Grundlagen einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung, als Basis für die Erlangung jeglicher Kompetenz, lassen sich wie folgt skizzieren:
Vergrößert sich der eigene Blickwinkel um die fortschreitende allgemeine Nutzung digitaler Techniken wie Virtual Reality, den erweiterten Einsatz und die Nutzung von KI sowie die Verschmelzung von Mensch und Maschine, werden viele Bereiche berührt. Diese analog-digital-biologischen Verschmelzungen haben neue Lebensrealitäten zur Folge, eine ganz neue Umwelt mit eigenen Gesetzen und erweiterten digitalen Figurationen. Auch eine neue Form der Körperlichkeit muss gedacht und mit all ihren Facetten in die Überlegungen einbezogen werden.
Literaturnachweise
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Forschungen zu multimodalen Kommunikationsformen wie Emojis und Hashtags.
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Sutanto, Philipp Kurt (2021). Medienimpulse: Kritische Anmerkungen zum Digitalen Humanismus.
Waibel, Saskia (2016). Multimodalität in digitalen Kommunikationsformen: Eine Analyse von MMS-, Whatsapp- und Facebook-Kommunikaten.
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